Seit Juli 2013 ist Professor Dr. Rebecca Spirig verantwortlich für die Pflege am UniversitätsSpital Zürich. Nach 100 Tage zieht sie eine erste Bilanz und spricht über Hochkompetenz, Wohlfühlzonen in der Pflege und erklärt, woraus der Skill- und Grade-Mix in Zukunft besteht.
Rebecca Spirig begrüsst mich für das Interview um 8:15 Uhr in ihrem Büro am UniversitätsSpital Zürich (USZ). Das Büro befindet sich in einem kleinen Haus auf dem grossen USZ-Gelände. An der Bürowand steht ein Micro Scooter, wohl für die langen Distanzen im USZ. Sie setzt sich vis-à-vis an den Sitzungstisch.
Frau Spirig, wenn Sie im Alltag auf einer Pflegestation sind, worauf achten Sie?
Ich achte auf die Art, wie sich Menschen begegnen und wie kommuniziert wird. Beispielsweise ob Pflegende und Ärzte klar kommunizieren. Ich sehe, wenn Hektik herrscht oder Hand-in-Hand gearbeitet wird. Auch fällt mir auf, ob patientenzentriert gearbeitet wird.
Woran erkennen Sie, ob patientenzentriert gearbeitet wird?
An den Äusserungen der Pflegenden und Ärzte. Es gibt Abteilungen, welche eine sehr technische Sprache verwenden. Das mag in spezifischen Situationen sinnvoll sein; für den Patienten hingegen, ist dies unglücklich.
Seit Juli 2013 sind Sie Direktorin Pflege und MTTB (= medizinisch-technisch-therapeutische Berufe) und Mitglied der Spitaldirektion am USZ. Haben Sie sich gut in der neuen Funktion eingelebt?
Ich denke, ich bin nun mit einem Fuss angekommen, möchte mir aber noch etwas Zeit lassen für die Rollenfindung. Heute stelle ich meine erste Analyse vor: 100 Tage Rebecca Spirig [Anmerkung: das Interview wurde am 15.10.2013 geführt]. In der Zeit konnte ich bereits viele Gespräche führen, hatte Sitzungen und musste auch Verantwortung übernehmen. Von Anfang an wurde von mir etwas erwartet. Da ich aus der Pflegewissenschaft komme, werde ich die Fachkompetenz sowohl für Pflege wie auch MTTB klar ins Zentrum stellen. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Führung: Vorbild sein. In den letzten 100 Tagen konnte ich meine Sicht schärfen, wohin sich der Bereich Pflege/MTTB künftig entwickeln soll. Bei uns gibt es eine Teilstrategie Medizin, Pflege und MTTB. Ärzte, Pflegende und MTTBs führen zusammen das Kerngeschäft und tragen gemeinsam die Verantwortung im multiprofessionellen Alltag. Diese Teilstrategie erleichtert meine Arbeit sehr.
Inwiefern hat sich Ihr Bild der Pflegedienstleitungen verändert, seit Sie selbst dem Pflegemanagement angehören?
Das Bild hat sich nicht verändert, da ich bereits sehr nah mit meiner Vorgängerin zusammengearbeitet habe und die Pflegedienstleitungen kannte. Mir ist eine klare und trotzdem partizipative Führung wichtig.
Was fasziniert Sie an der Funktion? Warum wechselten Sie aus der Pflegewissenschaft ins Pflegemanagement?
Ich will bewegen, steuern und befähigen. Der Bereich Pflege und MTTB soll sich kompetent einbringen und Verantwortung übernehmen, im Sinne der Patienten.
Was zeichnet Ihre Führungsart aus?
Leadership. Ich steuere über Inhalte, führe klar, aber dialogorientiert. Auch versuche ich Entwicklungen vorherzusehen und diese einzubringen. Breit abgestützte Führung erleichtert die Arbeit und ermöglicht Entwicklungen.
Gutes Pflegepersonal ist gesucht, warum ist das USZ ein attraktiver Arbeitgeber?
Als Leiterin des Zentrums Klinische Pflegewissenschaft am USZ konnte ich die Personalstrategie bereits mitprägen. Wir setzen auf Hochkompetenz. Fachkräfte kommen zu uns, weil Kompetenz im Sinne der Patienten im Zentrum steht. Damit sind nicht nur akademische Entwicklungen gemeint, sondern die Fortbildung auf allen Ebenen im Bereich Bildung, Führung und Fach.
Im Gesundheitswesen gibt es zurzeit viele Veränderungen. Welche Rolle spielt die Pflege im aktuellen Wandel?
Die Pflege wird durchgeschüttelt und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Die Pflege braucht Weichen, um sich zu entwickeln. Das USZ fokussiert sich künftig auf Kompetenzzentren wie das Herz-Zentrum. Die Pflege muss sich entsprechend mitentwickeln und die Pflegearbeit stets verbessern.
Was muss sich noch verändern, damit die Pflege für die Zukunft optimal aufgestellt ist?
Die Kommunikation auf Augenhöhe. Und damit meine ich Pflegende und Ärzte. Letztere müssen die Entwicklung der Pflege anerkennen. Die Pflege hingegen muss das Wissen einbringen, anstatt die ‚Faust im Sack’ zu ballen. Hinstehen und Verantwortung übernehmen, auch im wirtschaftlichen Sinn. Die letzten Jahre wurde im USZ viel im fachlichen Bereich investiert; in den nächsten Jahren geht es um die Führung, das Pflegemanagement. Es geht darum, Abteilungen und Bereiche wie kleine Unternehmen zu führen.
Das USZ will ein Magnetspital sein. An was arbeitet das USZ aktuell, um dieses Ziel zu erreichen?
Meine Vorgängerin hatte im Sinn, das USZ als Magnetspital zu akkreditieren. Aufgrund der Bürokratie verzichte ich darauf. Selbstverständlich werden wir uns weiter an diesen Charakteristiken orientieren. Die Führung spielt eine zentrale Rolle, genauso wie die stetige Qualitätsverbesserung und die multiprofessionelle Zusammenarbeit. Wir setzen auf die Besten und positionieren gezielt Pflegefachpersonen und Pflegeexpertinnen resp. Advanced Practice Nurses als Expertinnen und Experten in den USZ-Schwerpunkten. Die Magnetspital-Initiative prägte natürlich auch die Teilstrategie Medizin-Pflege-MTTB. Entsprechend orientieren sich die Entscheidungen daran. Und natürlich gibt es Projekte im Berufsalltag wie auch Forschungsprojekte, welche sich dem Thema widmen.
Die Bürokratie scheint Ihnen ein Dorn im Auge?
Ja, sie bereitet mir Sorgen. Wenn wir immer mehr dokumentieren, fehlt die Zeit am Patientenbett. Neu ist glücklicherweise das Pflegeassessment mit der Leistungserfassung gekoppelt. Das entlastet die Pflege. Ein Mitarbeiter ist aktuell vor Ort auf den Stationen nur mit Schulungen beschäftigt, um den Mehrwert dessen optimal auszunutzen.
Die Pflegewissenschaft ist im USZ auf allen Stufen verankert. Woran forscht das Team aktuell?
Es gibt drei Ebenen: Erstere ist nahe beim Patienten und handelt beispielsweise von einem neuen Versorgungsmodell. Wir beschäftigen uns damit, welche Unterstützung Patienten nach einer Leber- oder Nierentransplantation beim Medikamenten- und Symptommanagement benötigen. Was wirkt, was nicht. In einer zweiten Ebene geht es um Leitlinien und Programme. Wir erarbeiten eine Leitlinie zum aktuellen Schmerzmanagement aufgrund der aktuellen Evidenz. Die dritte Ebene ist ein Monitoring im Pflegedienst über Themen Komplexität der Pflege, Moralischer Stress und Pflegequalität.
Standardisierung der Pflegeprozesse ist ein grosses Thema. Wie weit ist das USZ diesbezüglich fortgeschritten?
Teilweise sehr gut, an anderen Projekten arbeiten wir. Gut ist beispielsweise die komplett elektronische Krankengeschichte. LEPWAUU konnten wir erst dieses Jahr einführen. Andere Betriebe arbeiten damit schon seit zwei Jahren. Leitlinien unterstützen den Standardisierungsprozess, genauso wie die Bildung von Fachzentren. Damit lassen sich einzelne Zentren zertifizieren. Dies wiederum führt zu mehr Standardisierung, auch für die Pflege.
Wie überzeugen Sie ältere Generationen in der Pflege, neue Wege zu gehen (neue Berufe intergieren, etc.)?
Mein Vorteil ist, ich gehöre zu den Älteren und kann mich als Beispiel anfügen: Was heisst es, älter und innovativ sein. Und jeder Beruf bringt Neues. Für mich und viele Kolleginnen ist dies Normalität. Oft geht es um den Berufsstolz. Dieser muss weiterhin Platz haben, damit die Veränderung leichter fällt. Ich stütze darum die Rolle der Pflegefachfrauen und -männer, schätze ihre Arbeit sehr und zeige dies auch. Innovative Pflegende gehen mit der Zeit mit.
Was ist erfolgsentscheidend innerhalb der Geschäftsleitung als Pflegedienstleitende? Tipps und Tricks für Kollegen des Pflegemanagements?
Es braucht eine gemeinsame Ausrichtung und ein gemeinsam getragenes Vorgehen. Dabei ist die Art der Zusammenarbeit, auf Augenhöhe, erfolgsentscheidend. Ein Geben und Nehmen im Sinne des wirtschaftlichen und inhaltlichen Erfolgs.
Wie packen Sie das Thema Skill- und Grade-Mix an?
Künftig muss der Patient im Fokus stehen und dass er die richtige Leistung zur richtigen Zeit von der richtigen Personen erhält. Wir orientieren uns aufgrund von internationalen Erfahrungen am Lean Management und versuchen dies, wo möglich, für das USZ zu adaptieren. Schliesslich geht es im Gesundheitswesen um Menschen, nicht um den Autobau. Aufgaben werden sich verschieben, wobei die Diagnostik klar bei den Ärzten bleibt. Kritische Fragen im Alltag auf den Pflegestationen gehören dazu. Nicht immer gibt es sofort eine Antwort. Und trotzdem versuchen wir stets, mit allen Ressourcen bewusst umzugehen. Insbesondere die Abläufe müssen einfacher und besser werden.
Wie ist im USZ der Pflegedienst organisiert? Was bewährt sich, was nicht?
Das Dreibein Führung-Fach-Bildung durfte ich bereits mitprägen und hat sich bewährt. Unterschätzt wurde die Notwendigkeit, dass Pflegeexperten und Berufsbildner ebenfalls Führungsfähigkeiten brauchen. Weiter gab es Missverständnisse, als die Stufen der Pflege-Fachkarriere eingeführt wurden. So sind die Diplomierten ganz unten. Die Kommunikation ist entsprechend wichtig. Und der ‚goldene Mix’ zwischen Berufsbildung und Akademie behält nach wie vor seine Gültigkeit.
Wo steht die Pflege im USZ in fünf Jahren?
Da das USZ Kompetenzzentren schafft, wird sich in den nächsten Jahren auch die Pflege daran orientieren müssen. Dies wird teils schmerzhaft sein. Aber alles können ist eine Illusion. Ich möchte, dass die Pflege in fünf Jahren innerhalb der USZ-Schwerpunkte mit hochkompetenten Experten in Führung, Bildung und Fach wesentlich zur interprofessionellen Zusammenarbeit beiträgt.
Mit welchen Trends wird sich die Pflege in den nächsten Jahren auseinandersetzen dürfen?
Im USZ steht der Neubau bevor. Damit wird die Strategie der Zentrumsbildung gestärkt, was wiederum die Pflege stark beeinflusst. Weiter werden wir uns mit professioneller Führung beschäftigen und offen sein, für Neues – mit Freude dabei bleiben.
Vielen Dank Rebecca Spirig für das Gespräch.
Über Rebecca Spirig
Professor Dr. Rebecca Spirig ist seit Juli 2013 Direktorin Pflege/MTTB und Mitglied der Spitaldirektion am UniversitätsSpital Zürich. Die promovierte Pflegewissenschaftlerin lehrt an der Universität Basel und arbeitet seit über 30 Jahren in der Pflege.